Mittwoch, 1. Dezember 2010

18.08.2011: Pamplona

6. Reise/21. Tag

Das Casa Paderborn, 07:15 Uhr
Als ich aufwache, scheint mir der Morgen dunkler als all die anderen davor. Und trüber, kühler, als läge Nebel über Pamplona.

Ich versuche, alles so zu machen wie jeden Morgen. Rucksack packen, frühstücken. Aber ich gehöre schon nicht mehr dazu. Ihr seid jetzt schon so weit weg von mir, denke ich. Reden will ich nicht mehr. Es ist alles gesagt. Ich fühle mich wie im Publikum eines großen Theaters. Ich kann nur noch beobachten, was passiert. Es zerreißt mir das Herz, den Weg hier und jetzt verlassen zu müssen. Und der Kloß in meinem Hals wächst.

Ich halte es im Casa Paderborn nicht mehr aus. Draußen kann ich wenigstens atmen. Ein Pilger nach dem anderen verlässt das Haus und macht sich auf den Weg. Schweigend umarme ich Pierre, dann Martin. Hey, macht euer Ding. Und passt gut auf euch auf.

Irgendwann schleiche ich verloren durch Pamplona, sitze stundenlang im Busbahnhof, ohne zu merken, wie die Zeit vergeht. Es ist genug. Ich muss hier weg.

Es geht mir erst besser, als ich im Bus sitze und über die Pyrenäen zurück nach St.-Jean-Pied-de-Port fahre. Als ich dort ankomme, ist es ein bisschen wie nach Hause kommen. Bei Jacques werde ich wieder herzlich aufgenommen. Es tut gut, diesen Abend noch hier zu sein.

Soundtrack of the day: Fink - Perfect Darkness


13.08.2011: Ostabat - St.-Jean-Pied-de-Port (22,5 km)

6. Reise/16. Tag

Als ich von Ostabat am Morgen aufbreche, ist bereits zu spüren, dass sich der Nebel nicht lange halten wird. Und mit jedem kleinen Sonnenstrahl wächst meine Vorfreude. Ich kann es nicht benennen, nicht beschreiben, nicht erklären, aber jetzt nähere ich mich Schritt für Schritt St.-Jean-Pied-de-Port und es ist ein bisschen wie damals vor Le Puy. Irgendetwas packt mich, rührt mich, schmeißt mich in die Luft und fängt mich wieder auf: St.-Jean-Pied-de-Port!

In St.-Jean-le-Vieux ist die Sonne unwiderruflich da und auf den letzten Kilometern sind kleine Schmetterlinge in meinem Bauch. Ich kann es kaum erwarten, durch dieses Tor zu gehen, das ich so oft auf Fotos gesehen habe. Und dann bin ich durch und plötzlich sind überall Menschen. Immer wieder ruft jemand von irgendwo meinen Namen, viele Pilger der letzten Tage sind schon hier, die Franzosen von Laressingle sind gar bereits wieder von Roncesvalles zurück. Im Trubel verstehe ich kaum, was sie mir zurufen. Ich winke nur – lasst mich erst einmal hier sein! Jedes Wort ist mir in diesen Minuten zuviel. Diese Augenblicke sind so kostbar für mich: Ankommen. Ich will mich einfach nur durch die Straßen treiben lassen, schauen und erleben und riechen und diesen unglaublichen Ort fühlen auf der Haut.

St.-Jean-Pied-de-Port
JA! Nach ein paar Minuten weiß ich es ganz genau: Hier werde ich meinen Platz finden. Für diesen einen verrückten Tag werde ich mich hier zuhause fühlen.  

Abends sitze ich mit Ursula und den Holländern in einer kleinen Seitengasse bei einem Glas Wein. Und dann liegt plötzlich doch noch ein bisschen Wehmut in der Luft. Für alle anderen wird der Weg hier enden. Über die Pyrenäen wird mich kein einziges vertrautes Gesicht mehr begleiten.  

Aber ich habe keine Lust, Trübsal zu blasen. Was für ein Privileg, hier noch weitergehen zu dürfen. Ich blicke von der Rue Citadelle den Berg hinauf und weiß ganz genau: Ich will es. Unbedingt.

Soundtrack of the day: Midlake - Small Mountain
 

Dienstag, 30. November 2010

24.09.2010: Saint Alban sur Limagnole - Aumont Aubrac (12 km)

4. Reise/10. Tag

Ich laufe durch den Regen und versuche herauszufinden, ob ich traurig bin. Ich weiß, dass ich ein Resumee ziehen sollte, einen Strich drunter machen, so ganz langsam. Morgen würde ich den Weg in aller Frühe mit dem Bus Richtung Süden verlassen.

Durch den Regen nach Aumont-Aubrac

Das gleichmäßige Prasseln auf mein Regencape bringt Ruhe in meinen Kopf. In den letzten Tagen ist so viel passiert. Ich erwische mich dabei, dass ich immer wieder ganz unvermittelt lächeln muss. In meinem Kopf spule ich kleine Filmchen der letzten Tage ab. Alles passiert wie in Zeitlupe. 

Ein Blick, eine Hand auf meiner Schulter, jemand, der an meinen Zöpfen zieht. Zwei Augen strahlen mich an, ein Hund frisst meine Wurst. Jemand reißt sich das T-Shirt vom Leib und wäscht es am Brunnen. Septembersonne auf gebräunter Haut. Heidi? Elle est suisse! Ein Wiedersehen und ein starker Kaffee.

Und Wärme, ganz viel Wärme. Das einzige, was ich immer suchen werde. Hier oder dort.

Dann reißt mich jemand aus meinen Gedanken: "Il y'a quelqu'un qui te cherche!" Mich sucht jemand?

Zuerst sehe ich den Hund, le chien. Wo kommst du denn her? Und dann den weißen Camion an der Straßenkreuzung. Er ist da. Unglaublich.

Soundtrack of the day: Angus & Julia Stone - For you

21.09.2010: Le Puy-en-Velay - Saint-Privat-d'Allier (24 km)

4. Reise/7. Tag

Zu dritt haben wir uns um 07:00 Uhr zur Pilgermesse verabredet. Ich? Pilgermesse? Okay, okay. Ich sehe ein, dass Walters Verabschiedung eines gewissen Rahmens bedarf, der ihm würdig ist. Noch nehme ich seinen Abschied auf die leichte Schulter. Aber dann kommt es anders.

Als ich da mit den vielen anderen Pilgern schweigend in der Kathedrale stehe, wundere ich mich über meine Dünnhäutigkeit.

Immer wieder an diesem Tag ringe ich nach Fassung. Was für eine seltsame Stimmung. Mit dem Augenblick, als Walter fort ist, hat Le Puy plötzlich ein anderes Gesicht bekommen. Ich gehe durch Gassen und Straßen, verlaufe mich immer wieder, verzettele mich in irgendwelchen Geschäften. Ich kann mich nicht dazu durchringen, endlich loszulaufen. Zwischendurch erschrecke ich vor meinen eigenen negativen Gedanken: Ich ziehe plötzlich sogar in Betracht, den Weg abzubrechen und schnurstracks nach Hause zu fahren. Ich habe keine Lust zu laufen. Und reden will ich sowieso mit niemandem. Reden konnte man doch sowieso am besten mit Walter. Also was sollte das alles noch?

Es wird Mittag in Le Puy und ich stehe immer noch verloren irgendwo herum und warte auf jemanden, der mich auf den Weg prügelt. Als ich ein Bett in Saint Privat reservieren will, hoffe ich für einen kurzen Augenblick, dass keines mehr frei ist. Pech gehabt.

Und dann renne ich einfach los. MP3-Player im Ohr, Blick auf den Boden und ab dafür. Ich überhole grußlos Pilger um Pilger. Sprecht mich bloß nicht an! Ich will meine Ruhe haben! Ich bin wütend und habe keine Ahnung, auf wen.

Saint-Privat-d'Allier

Später irgendwann werde ich dem Himmel danken, dass ich da durch bin. Dass ich weitergemacht habe. Dass ich völlig ohne Motivation doch irgendwie weitergegangen bin.

In Saint Privat bin ich körperlich total ausgepowert, aber lammsanft. Die Dämonen in meinem Kopf sind besiegt.

I got one hand reaching for heaven, and the other one is dragging in the dirt. (Christian Kjellvander)


Okay, es kann weitergehen.

Soundtrack of the day: Christian Kjellvander - Two souls

20.09.2010: Queyrières - Le-Puy-en-Velay (31 km)

4. Reise/6. Tag

Als ich mich von diesem wunderschönen Flecken Erde und dieser traumhaften Herberge in Queyrières am Morgen verabschiede, spüre ich, dass irgendetwas an die richtige Stelle gerückt ist - über Nacht. Beim Losgehen fühle ich in mich hinein und alles, was ich finden kann, ganz tief in mir, ist ein Lächeln, das mich von innen anstrahlt. Guten Morgen, Welt, ich komme.

Kirche St. Michel d'Aiguilhe in Le-Puy-en-Velay

Es ist einer jener Tage, an denen ich mit mir selbst spreche: "Wow, wie schön!" sage ich zum Beispiel, ganz laut, damit ich meine Stimme höre und sicher sein kann, das ist kein Traum, nein, ich bin es wirklich. Ich laufe mit großen Augen staunend durch diese grandiose Welt und bewundere ihre Schätze.
Wie ich mich freue. Auf diesen Tag, auf all die Orte und die Menschen, auf mein Leben, auf alles, was noch kommt, auf alles, was es noch zu entdecken gibt, aber erst einmal auf Le Puy. Herrje, ich bin bald da! Le Puy!

Vor Le Puy schaffe ich es tatsächlich noch, mich zu verlaufen und gehe 2,5 km in die falsche Richtung. Genau zum richtigen Zeitpunkt rettet mich Walter vorm Verzweifeln: Eine SMS: "Wo bist du?" Wir verabreden uns um 19:00 Uhr vor der Kathedrale.

Und dann sitzen wir bis tief in die Nacht in diesem schnuckeligen Restaurant, trinken Wein und lachen und finden das Leben einfach wunderschön.

Soundtrack of the day: Genesis - Follow you follow me

19.09.2010: Tence - Queyrières (22 km)

4. Reise/5. Tag

Es war eine unruhige Nacht. Eine jener Nächte, in denen irgendetwas aufreißt, was lange her ist. Ich träumte von Stacheldrähten und Schnittwunden und laufe morgens los wie ein verwundeter Krieger. 
Nach ein paar Kilometern treffen mich die ersten Sonnenstrahlen - Wärme bahnt sich vorsichtig einen Weg durch meine eingefrorenen Gedanken. Etwas taut, etwas heilt - in Zeitlupe.

Über den Dächern von Tence

Etwas, das ich festhalten will, entwischt mir immer wieder. Ich weiß noch genau, als ich da stehe, über den Dächern von Tence, mit geschlossenen Augen, dieses unglaubliche Licht im Gesicht, da hatte ich es beinahe, als müsste ich nur die Hand danach ausstrecken. Aber da war es auch schon wieder vorbei.

Ich denke an jemanden, mit dem ich gestern darüber sprach, was man lernen kann auf diesem Weg. "Loslassen", sagte ich. "Tiefseetauchen", sagte er. 

Manche Worte sind wie Flaumflocken auf meiner Wange.

Am Abend sitze ich dann auf der kleinen Terrasse vom Le Fritz. Die Beine auf dem Geländer, das Gesicht Richtung Sonne, bei einer Flasche Bier und Spaghetti und dem Mp3-Player in den Ohren lässt es sich aushalten. Ich genieße einen sagenhaften Blick auf die Vulkanhügel. Eine SMS für Walter, der noch weitergegangen ist: "Hier ist es so schön."

Dann das große Bett mit der weißen Bettwäsche. Ich schlafe sofort ein.

Soundtrack of the day: Amos Lee - Behind me now

13.08.2010: Les Abrets - Oyeu (22,5 km)

3. Reise/14. Tag

Magdalena jammert heute in einem fort. Und trödelt. Ich kann ihr ja nicht böse sein, aber eines macht mich immer wieder aufs Neue fertig: Je langsamer sie vorwärts kommt - mitunter schlurft sie schon in Schlangenlinien über den Weg - desto schneller wechseln ihre Entscheidungen. Im Fünf-Minuten-Takt will sie einmal unbedingt innerhalb kürzester Zeit in Le Puy sein und längere Etappen laufen und dann wieder will sie den Weg abbrechen und nach Avignon fahren - "noch ein bisschen Urlaub machen".

Einmal schaut sie mich mit großen Augen an und sagt: "Du willst das hier wohl wirklich."

Ich weiß nicht, Magdalena. Eines wird mir jedenfalls immer klarer: DU willst das hier NICHT wirklich. Aber es geht mich nicht im Entferntesten etwas an.

Irgendwann bleibt sie ganz stehen und ich gehe langsam weiter. Wenn du dich alleine fühlst, legst du einfach einen Zahn zu, dann hast du mich wieder, sage ich. Als ich leichten Schrittes weitergehe, fühle ich mich kurz, als hätte ich mein Hundchen in einer fremden Umgebung ausgesetzt und hilflos sich selbst überlassen.

Aber dann nimmt mich die Schönheit des Weges mit auf eine wunderschöne Reise durch diesen Tag und etwas trägt mich, weiter und weiter, die Haare im Wind, die Sonne auf der Haut.

Die Zeit vergeht wie im Flug. In Le Pin lege ich mich auf eine Mauer und beschließe, auf Magdalena zu warten. Als sie nach mehr als einer Stunde noch immer nicht da ist und auch keiner der vorbeikommenden Pilger sie gesehen hat, packe ich meine sieben Sachen und mache mich erneut auf den Weg. Ich habe von diesem winzigen, sehr einfachen Campingplatz in Oyeu gelesen - etwas abseits vom Weg - und irgendetwas zieht mich dort hin.

"Meiner" für eine Nacht ;-)
Und dann komme ich in der Abendsonne dort an. Was für ein kleiner, versteckter Platz, was für Menschen, was für eine Atmosphäre. Es stehen nur wenige Caravans hier, mit viel Platz und Grün dazwischen. Alles ist einfach, fast spartanisch, in der Dusche gibt es nur kaltes Wasser - aber es gibt eine Waschmaschine und ich habe einen riesigen alten Caravan ganz für mich alleine.

In dem kleinen Laden in Oyeu gibt es nur Brot und Käse, Schokolade und etwas zu trinken, aber ich bringe meine Einkäufe wie Schätze in den Caravan zurück, mache mir eine heiße Tasse Tee und fühle mich warm und geborgen.

Magdalena ruft an - sie ist mit anderen Pilgern in Le Pin geblieben. Sie ist guter Dinge und kocht Spaghetti.

Alles ist gut.

Soundtrack of the day: Fleetwood Mac - Sara

09.08.2010: Les Côtes - Chanaz (29 km)

3. Reise/10. Tag

Die Sonne brennt schon am frühen Morgen erbarmungslos vom Himmel. Eigentlich mein Wetter, aber ich merke schon bald, dass ich im Kreis laufe. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Die Hitze legt sich auf die Bilder in meinem Kopf und alles verschwimmt zu einem dicken Brei. Zwei Schritte vor, drei zurück. Wie im wahren Leben. Ich bin hoffnungslos verloren.

Eine Telefonkabine schluckt meine teure Telefonkarte und spuckt sie nicht mehr aus. Ich werde vom "Maison de la Culture" zur Touristen-Info geschickt, allein auf den paar Metern verlaufe ich mich und renne eine halbe Stunde völlig kopflos durch die Straßen. Gezwungen freundliche Menschen versuchen, mit der französischen Telekom zu telefonieren, nach einer halben Stunde stellt sich heraus: alles zwecklos, ich lasse meine deutsche Adresse dort und verschwinde. 
Seyssel


Es ist Wochenmarkt in Seyssel und ich finde zwischen den ganzen Menschen und Marktständen endlich die Post. Eine neue Telefonkarte. Wo ist die nächste funktionierende Telefonzelle? Aha, ich muss bis zum Bahnhof laufen, ans andere Ende, meint die Frau. Okay. Auf die halbe Stunde kommt es jetzt auch nicht mehr an. Dad's Stimme beruhigt mich ein bisschen. Ja, es ist alles okay, Dad, nur ein bisschen heiß hier, weißt du. Wieder durch das Gewühle hinauf zum Zentrum. Ich kann nicht loslaufen, ohne etwas getrunken zu haben. Ich setze mich in einem Straßencafé an ein kleines Tischchen und bestelle einen Eiscafé. Ich habe den direkten Blick auf die Post, wo ich vor einer halben Stunde die Telefonkarte gekauft hatte. Und dann sehe ich sie, direkt daneben: 3 Telefonzellen.

Mittlerweile ist es 10:30 Uhr. Die Sonne brennt und ich laufe wie in Trance. Ich setze einen Schritt vor den anderen, versuche mich zu konzentrieren, ich laufe und laufe und habe doch das Gefühl, kaum vorwärts zu kommen. Irgendwann gebe ich innerlich mein Ziel "Chanaz" auf und beschließe, die nächste Herberge, die mir über den Weg läuft, beim Schopf zu packen. Da! Ein Schild, 1,5 km abseits vom Weg, okay, das pack ich noch. Ich frage zur Sicherheit noch ein paar ältere Herren, die vor einem Haus im Schatten sitzen. Die Herberge? Jaja, immer geradeaus.

Dann schleppe ich mich zur Tür, drücke die Klingel. Eine Frau öffnet, nein, wir haben nichts mehr frei. Ich verstehe nicht, was sie sagt, frage mehrmals: Pardon? Langsam begreife ich, was das bedeutet. Nein, flüstere ich, nein. Ich muss ein erbärmliches Bild abgeben, denn die Frau hastet panisch ins Haus und bringt mir irgendeinen Mineraldrink. Ich leere das Glas in einem Zug, dann humpele ich grußlos davon. Ich kann einfach nicht mehr.

Ich versuche, meinen Kopf zu überlisten. Jemand sagte mir mal: "Wenn du zum ersten Mal denkst, du kannst nicht mehr, hat dein Körper noch 50 Prozent Reserven." Es ist wie beim Joggen. Wenn du 10 km laufen willst und kurz vor der Ziellinie erfährst, dass du noch 1 km dranhängen musst, denkst du: Das geht nicht. Willst du aber von Anfang an 11 km laufen, schaffst du das ohne Probleme. Okay, jetzt muss ich also die psychologischen Tricks auspacken.

Ich stapfe die 1,5 km zurück und dann also doch nach Chanaz. Ohne Schatten, ohne einen einzigen Baum, ohne eine Bank oder einen großen Stein, auf dem man sich hätte setzen können - kilometerlang geradeaus, direkt am Strand entlang. Ich habe keinen Blick mehr für die Schönheit der Rhone. Ich heule leise vor mich hin, Tränen vermischen sich mit Schweiß und meine Füße sind dicke schwere Klumpen. Meine Wasserflasche ist schon lange leer, meine Lippen springen auf. Nur wenige Menschen sind hier unterwegs - es ist einfach zu heiß.

Dann endlich: Ich sehe in der Ferne die ersten Caravans, der Campingplatz von Chanaz!

Ein heißer Tag an der Rhone

Aber es sollte noch nicht zu Ende sein. Am Campingplatz nur ein Schild: Ich komme bald wieder.

Ich setze mich in den Kiosk und trinke schnell nacheinander zwei Halbliterkrüge Eistee. Und dafür werde ich noch von einer Gruppe junger französischer Hühner ausgelacht. Na, vielen Dank. Habt ihr vielleicht eine Ahnung, wie ich mich fühle? Ach, egal. Ich rufe in der Gite rural an. Ja! Ein Bett ist noch frei, aber ich muss auf den Berg hinauf, ans andere Ende von Chanaz. Oben angekommen, öffnet mir ein älterer Mann in der Badehose und zeigt mir das Bett. 

Nein, denke ich. Ich kann hier nicht bleiben. Es riecht modrig, ein feuchter Belag liegt auf den Möbeln und als ich die Toilette sehe, mache ich auf dem Absatz kehrt. Wieder hinunter nach Chanaz. Der alte Mann ruft mir wüste Beschimpfungen nach, ich drehe mich nicht einmal mehr um.

Unten in Chanaz gibt es ein heruntergekommenes Hotel mit einem merkwürdigen Typen und in den Handtüchern sind Löcher. Egal. Schluss jetzt. Hier bleibe ich. Es dämmert schon, als ich meine Wäsche an die Fenster hänge.

Die Hitze legt sich auf die Bilder in meinem Kopf und alles verschwimmt zu einem dicken Brei. Zwei Schritte vor, drei zurück. Wie im wahren Leben. Ich bin hoffnungslos verloren.

Ich schlafe wie ein Stein.

Soundtrack of the day: Eddie Vedder - Big hard sun

Montag, 29. November 2010

03.08.2010: Vucherens - Préverenges (30 km)

3. Reise/4. Tag

Manchmal beginnen die schwärzesten Tage so, als könnten sie kein Wässerchen trüben. Ich verlasse Vucherens zwar ein bisschen wehmütig - die Menschen, die mir hier ein Zuhause anboten, die kleine Kapelle, die Luft, die Landschaft, die einsamen Wege. Aber irgendwie freue ich mich auch auf Lausanne. Und der erste Blick von der Kapelle St. Laurent hinab auf den Genfer See macht mich still und dankbar. Was für eine Aussicht.

Guten Mutes passiere ich die ersten hohen Häuser am Stadtrand und schaue mir die Kathedrale Notre Dame an. Ich bin früh dran, eigentlich ist keine Eile geboten. Aber ein dumpfes Gefühl in der Magengegend treibt mich dann doch in die nächste Telefonzelle. Nach einer halben Stunde habe ich alle Adressen durch und kein Bett. In der Touristeninformation tut man so, als würde man zum ersten Mal einen Pilger sehen.

Der Rest tut weh und ist schnell erzählt: Ich klappere einige Hotels ab, die sich eigentlich sowieso kein Mensch leisten kann, im dritten oder vierten hat man zwar noch ein Bett, macht mich aber drauf aufmerksam, dass dies ein 3-Sterne-Hotel sei und keine Pilgerherberge und dass ich mich dementsprechend zu verhalten hätte. Ich schaue ungläubig in kalte, arrogante Augen und weiß plötzlich, dass ich schon viel zu lange hier in dieser Stadt bin, in der ich nicht erwünscht bin und die in der warmen Abendsonne plötzlich kühl und hässlich wirkt. Ich muss hier weg.

Ich frage mich irgendwie durch und versuche, auf kürzestem Wege Lausanne hinter mir zu lassen. Durchatmen kann ich erst, als ich in Vidy wieder auf den signalisierten Jakobsweg treffe. Inzwischen ist es nach 18:00 Uhr und jeder Schritt wird zur Qual. Nach einem Blick in den Reiseführer wird mir klar, dass der Weg wohl mehrere Tage direkt am Genfer See entlangen führen wird, wo es nur wenige günstige Übernachtungsmöglichkeiten gibt. Und dann geht der Rest auch noch schief: Falsche Telefonnummern, geschlossene Unterkünfte, ausgebuchte Pensionen und Hotels.

Le Lac Leman - der Genfer See
Ich halte mich nur mit Mühe noch aufrecht, versuche irgendwie vorwärts zu kommen, vorbei an frisch geduschten Touristen und Feierabendjoggern. Ich vermeide, mich auf einer Bank auszuruhen, weil ich befürchte, dass ich irgendwann einfach sitzen bleibe.

Ich ertappe mich bei dem Gedanken, zu warten bis es ganz dunkel ist und dann verbotenerweise im warmen Sand am Strand des Genfer Sees zu übernachten. Diese Möglichkeit tröstet mich beinahe: Ich muss nicht laufen bis ich tot umfalle.

Endlich ist das Hotel in Sicht, das im Reiseführer als günstig und pilgerfreundlich beschrieben wird. Die Telefonnummer hatte wohl nicht gestimmt, meine Anrufe landeten immer im Nirvana. Schnell wird mir klar, warum: Es hat den Besitzer gewechselt und ist jetzt keineswegs mehr günstig und pilgerfreundlich.

Ich schaffe es grade noch unter die Dusche, dann falle ich in mein 150 SF teures Bett und in einen komaähnlichen Schlaf.


Soundtrack of the day: Chris Pureka - Grey

02.08.2010: Romont - Vucherens (21 km)

3. Reise/3. Tag:

Hätte es zwei Stunden geregnet, wäre dieser Tag vermutlich wirkungslos an mir heruntergeprasselt. Wie es halt so ist mit den Dingen, die "ein bisschen" passieren ... oder "vielleicht" ... oder "weiß nicht".  
An der Broye entlang ...


Aber dieser Tag hatte die Kraft von "ganz oder gar nicht". Die Stärke von "das ist so und das bleibt so". Dieser Tag hatte eine Kompromisslosigkeit, die mir imponierte. Dieser Tag krallte sich in mir fest, als wollte er sagen: "Mich vergisst du nicht".

Acht Stunden Regen. Acht Stunden nur der Regen und ich.

Nur kurz unterbrochen durch ein unerwartetes Wiedersehen in der Kirche von Moudon. Wielange dauert eine Tasse heißer Kakao mit einem verloren geglaubten Menschen?

De facto: Eine Viertelstunde. In meiner Erinnerung: Unendlich.

Soundtrack of the day: Joshua James - Confessionary Hymn

31.07.2010: Schwarzenburg - Fribourg (21 km)

3. Reise/1. Tag

Ich freue mir ein Loch in den Bauch, wieder hier auf dem Weg zu sein. Es ist einer jener seltenen Tage, an denen ich mit niemandem tauschen möchte. An denen ich ahne, wie sich "Glück" anfühlen könnte. An denen ich meine, den Duft und die Geräusche des Sommers viel intensiver wahrzunehmen als sonst. Einer jener seltenen Tage, an denen mich der Zauber der Natur von der ersten bis zur letzten Minute in seinen Bann zieht und ich der Magie dieses Weges wieder einmal rettungslos erliege.


El Camino

Irgendwann habe ich begonnen, sämtliche größere Tiere auf dem Weg zu begrüßen. Guten Tag, Kühe. Guten Tag, Hund. Guten Tag, Katze. Aber an Tagen wie diesen spreche ich sogar mit den Schmetterlingen und den Käfern. Ich bin wieder hier.

Es dämmert schon, als ich in Fribourg ankomme. Der Lärm und die Hektik der Stadt überfallen mich - wie immer - unvorbereitet. Ich ziehe den Kopf ein und schleiche durch die Straßen.

Die Jugendherberge ist nicht leicht zu finden, aber sie haben in einem 8er-Zimmer noch ein Bett für mich frei - ein kleines Wunder, wenn man bedenkt, dass am nächsten Tag Schweizer Nationalfeiertag ist und viele Jugendgruppen zum Feiern unterwegs sind.

Und es wird dann auch eine denkwürdige Nacht. Mein Bettnachbar, den ich bis zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht zu Gesicht bekommen habe, wankt um 03.00 Uhr nachts stockbetrunken in sein Bett. Das erste Mal schafft er es noch irgendwie wieder vom Stockbett runter zur Toilette auf dem Flur. Das zweite und dritte Mal kotzt er einfach ins Bett. Direkt vor meinem Fenster diskutiert eine Gruppe rauchender und trinkender Jugendlicher schon seit Stunden lautstark und der Grundtenor ist sowieso ein dumpfes "bumm - bumm" aus irgendwelchen Hochleistungs-Soundanlagen. An Schlaf ist nicht zu denken.

"... but she is tough like terpentine, but she is hard like kerosene" (Joe Purdy) - ach ja. Augen zu und durch.

Soundtrack of the day: Joe Purdy - Kerosene

13.06.2010: Rüeggisberg - Schwarzenburg (11 km)

2. Reise/9. Tag

Es war nicht überraschend. Dieser Schatten lag von Anfang an über meinem Weg. Als es dann soweit ist - Mum sagt es mir am frühen Morgen am Telefon - bricht so viel Widersprüchliches über mich herein, dass ich einfach nicht mehr kann. Lange weine ich in Monicas Pullover.

Meine Oma starb in der Nacht.

Ein Schock, dass ich meinen Weg hier abbrechen muss, gerade dort, gerade jetzt - und doch weiß ich, dass ich sofort nach Hause muss. Ich kann es nicht fassen, dass Monica und ich am Abend noch so fröhlich waren, wir sangen und dichteten und lachten bis tief in die Nacht - während die Oma um ihr Leben rang.

Und zwischen all den Tränen bin ich auch unheimlich froh und erleichtert: Dass sie es geschafft hat, endlich. Es war ein langer Kampf.

Ich laufe mit Monica noch bis Schwarzenburg zum nächsten Bahnhof. Erst viel später werde ich verstehen, wie wichtig dieses letzte kleine Stück Weg für mich war. Irgendwie hielt die Welt den Atem an und ich folgte Monica durch ein Vakuum, zum Licht ganz am Ende des Tunnels. Ich sah keine gelben Pfeile, keine Straßenkreuzung, war selbst fast nicht imstande, die Zugverbindung zu checken. Danke Monica - mit dir kam ich warm und sicher am Bahnhof an. Der Weg hat mir dich geschickt.

Von diesem Tag gibt es kein einziges Foto und keine Musik.

12.06.2010: Amsoldingen - Rüeggisberg (21 km)

2. Reise/8. Tag

Oberhalb von Amsoldingen
Ausgeschlafen mache ich mich am frühen Morgen im Nieselregen auf den Weg.

Es gibt wenige Kirchen, die einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Aber diese Basilika in Amsoldingen überrascht mich. Es ist dunkel in ihrem Inneren, die Luft ist feucht, es brennen ein paar wenige Kerzen und ich ahne plötzlich, dass es das gibt: Dass man Frieden spüren kann, auf der Haut. Dass man Frieden riechen und einatmen kann. Dass es Orte zu geben scheint, wo man hineingehen kann und Frieden abholen und mitnehmen kann, soviel man braucht, einfach so.

Und dann kreuzt Monica aus Madrid meinen Weg. Plötzlich ist sie da. Zweimal trennen wir uns, zweimal sind wir ohne Absprache plötzlich wieder Seite an Seite. Als hätten wir uns nicht gesucht, und doch gefunden.

In Rüeggisberg ist der Hund begraben. Es gibt zwei Herbergen und Monica und ich haben je eine ganz für uns allein. Und so machen wir uns einen Spaß daraus, von der einen in die andere zu pendeln - essen in der oberen, trinken Tee in der unteren. Spät am Abend machen wir uns noch auf, die Klosterruine zu besichtigen. Ich kann mich nicht erinnern, an einem Abend auf dem Weg jemals so viel gelacht zu haben.

Und irgendwo zwischen Monica und mir, zwischen Käsenüdeli und Rotwein, zwischen lachen und weinen, zwischen erzählen und zuhören - macht sich dann plötzlich ein seltenes Gefühl breit: Zur richtigen Zeit genau am richtigen Ort zu sein. 

Es scheint, als wäre die Welt im Gleichgewicht.

Soundtrack of the day: Rachael Yamagata & Ray Lamontagne - Duet

11.06.2010: Einigen - Amsoldingen (11 km)

2. Reise/7. Tag

"Jugend mit einer Mission" - Le Rüdli
Ohne eine Stunde Schlaf bin ich in der Morgendämmerung bereits auf dem Weg. Auf der Flucht. Vor diesem merkwürdigen Haus und diesen Menschen, die mir nichts getan haben. Aber die mir fremd geblieben sind.

"Jugend mit einer Mission" - als ich am Abend davor müde dort in diesem Schloss ankomme, weiß ich nichts darüber. Ich frage und frage und bekomme Antworten, die ich nicht verstehe. Irgendwann wird mir klar: Ich bin hier in einer anderen Welt gelandet. In einer Welt, in der ich mich niemals wohlfühlen könnte. Ich habe aber auch verstanden, dass die Menschen, die hier sind, einen Ort gefunden haben, an dem sie leben, nein: überleben können. "Draußen" scheint ihnen das nicht möglich zu sein.

Ich frage mich, was in diesem Haus fehlt. Wärme vielleicht. Offenheit. Und etwas, das einen nachts ruhig schlafen lässt. Das Haus ist totenstill. Aber ich mache die ganze Nacht kein Auge zu. 
Ohne Frühstück renne ich also mit flauem Magen in die Welt hinaus. Nach wenigen Kilometern wird mir klar: So geht das nicht. Ich brauche eine große Mütze Schlaf und jede Menge Flüssigkeit. So endet meine Etappe schon um die Mittagszeit in einem Gasthaus in Amsoldingen.

Trinken. Schlafen. Mein Kopf gibt Ruhe. Endlich.

Soundtrack of the day: Frazey Ford - One more cup of coffee (Bob-Dylan-Cover)

05.06.2010: Maria Einsiedeln - Ingenbohl (20,5 km)

2. Reise/1. Tag

Eine fast leere S-Bahn bringt mich die letzten Kilometer nach Maria Einsiedeln und als ich aussteige, kann ich kaum glauben, dass ich hier erst einmal - letztes Jahr im Oktober am Ende meiner ersten Pilgerreise war. Alles ist mir noch genau in Erinnerung und obwohl mir dieser Ort jetzt bei Sonnenschein und im Vollbesitz meiner Kräfte deutlich sympathischer ist, zieht es mich gleich hinauf zum Kloster. Der Weg ruft.

Ich laufe zügig, immer am Flüsschen Alp entlang durch die wunderschöne Landschaft und ich glaube, hier habe ich es zum ersten Mal: Dieses Hans-im-Glück-Gefühl. Ich verdränge den Gedanken daran, dass ich mir grade im Moment den Sonnenbrand meines Lebens hole und genieße einfach nur den Weg, die Natur, das Jetzt. So lange hatte ich mich auf den Weg zurückgesehnt. Endlich. Endlich.


In der Ferne zeichnen sich die Mythen ab - da hinüber muss ich heute noch. Ich quere eine Landstraße und da geht es auch schon los. In der brütenden Hitze geht es steil nach oben zum Haggenegg. Das tut sich an einem derart heißen Tag wohl außer mir kaum jemand an. Während unten auf den ersten Kilometern am Flüsschen entlang noch jede Menge Walker, Jogger und Spaziergänger unterwegs waren, kämpfe ich mich alleine den Berg hinauf.

Bereits vollständig nassgeschwitzt komme ich auf halber Strecke an ein Gatter und sehe von oben einen Mountainbiker herankommen. Eigentlich möchte ich ihm nur freundlicherweise das Gatter aufhalten. Der aber ist wohl über eine kleine Pause genauso froh wie ich, reißt sich die Kopfhörer seines MP3-Players aus den Ohren und steigt halb ab. Ich denke plötzlich, dass er wohl genauso ein seltsamer Mensch sein muss wie ich: Da unten in Schwyz tobt der Bär auf diesem Trachtenfest und wir beide keuchen uns hier oben in völliger Einsamkeit und 40 Grad im Schatten inmitten dieser unglaublichen Natur die Lunge aus dem Leib. 

Dann komme ich auf 1.414 m auf der Passhöhe an, dem höchsten Punkt meiner gesamten Pilgerreise, und habe eine grandiose Aussicht auf den Hoch-Ybrig, die Glarner Alpen, die Mythen und den Haggenspitz. Im kleinen Gasthaus Haggenegg setze ich mich auf die Terrasse, trinke ein eiskaltes Rivella und strecke die Beine aus.

Übers Haggenegg nach Schwyz hinunter
Der Weg vom Haggenegg nach Schwyz hinunter ist dann glücklicherweise nur halb so dramatisch wie er in den Reiseführern beschrieben wird. Die 900 Höhenmeter abwärts, die zu überwinden sind, spüre ich deutlich in den Oberschenkeln. Aber der Weg ist gut. Und immer wieder habe ich traumhafte Ausblicke nach Schwyz und auf den Vierwaldstätter See hinunter.

Während oben noch ein angenehmes Lüftchen ging, bekomme ich mit jedem Meter, den ich weiter absteige, die Hitze wieder erbarmungslos zu spüren. Mein T-Shirt könnte ich fast auswringen, meine Arme und Beine sind bedeckt von einer gleichmäßigen Schmutz- und Schweißschicht, mein Gesicht ist rot und heiß und ich mache eigentlich keine Schritte mehr, ich falle so ein bisschen von der rechten Hüfte in die linke und wieder zurück. Dann komme ich in der Abendsonne bei den ersten Straßensperren an. Schwyz.

Menschen in Festtagstrachten kommen mir entgegen. Je weiter ich in den Ort hinuntergehe, desto dichter wird der Geräuschpegel um mich herum, Musik & Kinderlachen, es duftet nach Grillfleisch. Ich laufe beinahe wie in Trance durch das Trachtenfest. Ich passe überhaupt nicht in dieses Bild, aber ich störe hier auch nicht - also lasse ich mich durch die Gassen treiben, ohne wirklich Teil des Ganzen zu sein. Zuerst überlege ich noch, mir einen schattigen Platz an einem der Biertische zu suchen, die Beine auszustrecken und ein bisschen Siesta zu machen. Es wäre auch mehr als vernünftig, etwas zu essen zu besorgen, zumal ich in Ingenbohl auf dem Bauernhof wohl nichts mehr kriegen würde. Die Bäurin hatte mich vorgewarnt, sie ist mitten in der Heuernte und Abendessen machen ist einfach nicht drin.

Aber ich laufe weiter und weiter, die Tische sind meist voll, ich müsste mich irgendwo zu diesen sauberen, ausgeruhten Menschen dazudrängen - das kommt aber schon alleine aufgrund meines desolaten hygienischen Zustandes nicht in Frage. Dann kann ich mich für keinen Essensstand entscheiden, überall duftet es verführerisch, aber ich habe keinen Nerv, lange anzustehen, und so komme ich immer mehr ins Zentrum. Hier schieben sich die Menschen vorwärts, es wird ungemütlich.

Nein, das glaube ich jetzt nicht! Ich sehe einen Wegweiser dicht bei mir und einen weiteren in der Ferne auf der anderen Seite des Platzes. Dazwischen eine riesige Holztribüne, hinter der sich gerade eine Trachtengruppe aufstellt. Ich vermute, dass hier gleich getanzt wird, jedenfalls ist um die Tribüne herum kein Durchkommen mehr, die Zuschauer stehen dicht gedrängt. Mir ist jetzt schon alles egal - Augen zu und durch. Ich klettere auf die leergefegte Tribüne und gehe forschen Schrittes mitten hindurch. Mein Publikum lacht und grölt und applaudiert, aber das Ganze ist mir seltsamerweise nur minimal peinlich. Ich bin glücklich, auf der anderen Seite bei meinem Wegweiser angekommen zu sein und laufe jetzt auch schon aus Schwyz heraus. An einem Brunnen mache ich noch kurz halt, dann geht es wieder hinein in die Natur. Als ich auf die Uhr schaue, bin ich dann doch kurz schockiert: Es ist 18:30 Uhr, jetzt heißt es einfach nur zügig Kilometer machen, so gut das noch irgendwie möglich ist.

Dann sehe ich in der Ferne auf einer Anhöhe das Kloster Ingenbohl. Ein wunderschöner schmaler Weg führt hinauf. Völlig außer Atem treffe ich oben eine Schwester, die auf mich zueilt und mich besorgt fragt, ob sie mir helfen kann. Als sie hört, dass ich zum Bauernhof möchte, lässt sie sich nicht davon abbringen, ein Stück mit mir zu gehen. Erst in diesem Moment fällt mir auf, dass es schon fast dunkel geworden ist.

Die Bäurin bringt mir einen leichten Baumwollschlafsack, zeigt mir den Kühlschrank, wo ich etwas zu trinken holen kann, und als ich mich in der großen Scheune umschaue und meinen Rucksack auf mein Strohbett werfe, fühle ich mich auf Anhieb wohl.

Meine erste Nacht im Stroh. Zwei österreichische Mitpilgerinnen, die kaum ein Wort mit mir sprechen, ein Sonnenbrand, der sich gewaschen hat und kaum mehr die Kraft, die Zähne zu putzen. Aber mit niemandem - mit niemandem auf dieser ganzen Welt würde ich tauschen.

Soundtrack of the day: Moby - Everloving